20.02.2023
Hofgeismar / Wesertal. Nachdem der Kirchenkreis am 2. Februar 2023 einen Fall sexueller Übergriffe im Raum Hofgeismar veröffentlicht hatte, hat sich ein weiterer Betroffener aus dem Raum Wesertal an die HNA - Hofgeismarer Allgemeine gewandt und seine Erlebnisse geschildert (hier die Onlineversion des Artikels vom 18. Februar 2023 zum Nachlesen).
Im Zuge der Berichterstattung über beide Fälle führte die Leiterin der HNA-Redaktion Hofgeismar, Daria Neu, ein Interview mit Dr. Thomas Zippert, dem Landeskirchlichen Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt. Dieses geben wir hier mit freundlicher Genehmigung der HNA wieder:
» Transparent zeigte sich die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), als klar wurde: Ein Betroffener möchte die Öffentlichkeit anonym darüber informieren, dass er in den 90er-Jahren im Raum Hofgeismar sexualisierte Gewalt erfahren habe. Prävention und Aufarbeitung stünden nun an allererster Stelle, betonte die Landeskirche Anfang des Monats in ihrer eigeninitiativen Pressemitteilung.
Aber wie funktionieren Prävention und Aufarbeitung in diesem Kontext eigentlich? Und wie positioniert sich die Landeskirche zu dem Vorwurf eines anderen Betroffenen, der bereits vor mehr als zehn Jahren an die Öffentlichkeit habe gehen wollen, seitens der Kirche aber nicht genug passiert sei? Wir sprachen darüber mit Thomas Zippert, Pfarrer und Landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt bei der EKKW.
Herr Dr. Zippert, ist sexueller Missbrauch in Kirchen noch ein Tabuthema?
Ja, das ist es. Weil es gesellschaftlich auch immer noch ein Tabuthema ist. Wir und andere alte Institutionen mussten erst einen Umgang damit lernen. Es ist im Übrigen für Menschen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, ein Thema, das mit viel Angst, Scham und Ohnmacht verbunden ist. Wenn es öffentlich wird, weckt das die alten Dämonen und reißt alte Wunden wieder auf. Einige Betroffene wollen sich daher selbst schützen. Wege an die Öffentlichkeit können von Betroffenen auch als Übergriff empfunden werden, sie müssen gut mit ihnen zusammen überlegt werden.
Es gibt einen Landeskirchlichen Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt, nämlich Sie. Zeigt diese Stelle, dass Kirche ein Problem hat?
Das zeigt es. Es zeigt aber auch, dass wir uns damit auseinandersetzen. Man braucht eine Person, die sich des Themas annimmt, die Impulse setzt. Eine Person, die das, was Betroffene brauchen, an einer Stelle zusammenführt.
Fühlten Sie sich in einer traurigen Annahme bestätigt, als Sie von den Taten erfahren haben?
Leider ja. Betroffene leiden unter solchen Vorfällen ein Leben lang und das darf man keinesfalls unterschätzen. Es ist ein Thema, das Biografien verdunkelt. Vor allem ist es traurig, dass wir uns immer daran erinnern müssen, dass es noch mehr Betroffene gibt, als wir es bislang wissen. Wir möchten sie ermutigen, sich zu melden.
Sind Sie früh genug mit dem Thema an die Öffentlichkeit gegangen?
Für die Betroffenen war der Zeitpunkt bestimmt zu spät. Bei einer solch alten Institution wie der Kirche zeigt sich in der Umsetzung der Aufarbeitung sicherlich der gleiche Widerstand wie fast überall in der Gesellschaft. Wie gesagt: Wir müssen den Umgang damit erst lernen.
Ein Betroffener, der angibt, in den 60er-Jahren sexuell missbraucht worden zu sein, findet, dass das Thema zu spät öffentlich geworden ist.
Wir haben uns die Geschichte des Betroffenen noch einmal angeschaut. Dass er sich noch mehr Unterstützung seitens der Kirche gewünscht hat, kann ich sehr gut nachvollziehen. Als wir etwa vor zehn Jahren von dem Fall erfahren haben, gab es erste Schritte an die Öffentlichkeit. Die Kirche hat dafür gesorgt, dass dieser Fall den Weg zur Staatsanwaltschaft gefunden hat. Man hat nur die juristische Bearbeitung gestartet. Andere Wege kannte man nicht, die Strukturen fehlten noch. Wir haben sehr lange gebraucht, um herauszufinden, welchen Weg wir als Kirche gehen können, um sexuelle Übergriffe aufarbeiten zu können. Aufarbeiten heißt, Geschehenes anzuerkennen und sich der Verantwortung für die Betroffenen zu stellen.
Der Betroffene kritisiert, dass er nicht auf Leistungen der Kirche hingewiesen worden ist.
Das kann ich gut verstehen. Die unabhängige Kommission, die Betroffene begleitet und beispielsweise über Anerkennungsleistungen entscheidet, gibt es in der EKKW erst seit 2019. Es gibt freilich keinen Weg, wie diese Information die Betroffenen erreichen kann. Wir haben mit dem Betroffenen jetzt noch einmal Kontakt aufgenommen. Außerdem werden wir uns die Fälle – es ist gut möglich, dass es weitere in dieser Zeit gegeben hat – noch einmal ganz genau anschauen.
Prävention, Transparenz, Anerkennung – das sind sperrige Begriffe. Wie kann Kirche sie umsetzen?
Prävention bedeutet, dass jede Kirchengemeinde eine Risikoanalyse machen muss. Wo könnten sich Täter zurückziehen? Wo sind dunkle Ecken, mögliche Tatorte? Gibt es Veranstaltungssettings, die eine Gefahr darstellen. Der Begriff Transparenz beschreibt die Bereitschaft, offen mit dem Thema umzugehen. Und bei der Anerkennung ist wichtig, zu betonen, dass diese keine Entschädigung ist. Anerkennungsleitungen sind nichts, was den sexuellen Übergriff und seine Folgen ungeschehen machen könnte.«
Bild:
Dr. Thomas Zippert ist Landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt. (Foto: medio.tv/schauderna)
Sven Wollert - 12:38 @ Allgemein, Kirchenkreis, Weserkirchen